Neuropsychologie
des Traumas
Die Betrachtung neuropsychologischer Prozesse unter Stressbelastung ist nicht nur für das Verständnis posttraumatischer Verhaltensweisen sinnvoll; vielmehr können wir durch das Wissen über neurologische Systeme und deren Funktionssymbiose auch Rückschlüsse auf die Auswirkungen erworbener Hirnschädigungen auf das psychische Erleben und Verhalten ziehen. Gerade in der Arbeit mit neurologisch erkrankten Menschen öffnen sich dadurch neue Therapieansätze und Impulse für die Zusammenarbeit mit diesen Menschen.

Wo der Stress zu Hause ist.
Grundlegend ist zu sagen, dass wissenschaftlich nicht abschließend zu erklären ist, wie neuronale Prozesse unter Stressbelastung funktionieren. Insbesondere die Frage nach der neurologischen Grundlage für unser Bewusstsein ist lange noch nicht umfassend zu beantworten.
Nichtsdestotrotz können die wissenschaftlichen Erkenntnisse der letzten Jahre und Jahrzehnte Aufschluss über den unter Stressbelastung laufenden Funktionskreis geben, der sich nicht ausschließlich auf das psychische Erleben sondern ebenso somatische Prozesse bezieht.
Die neurologische Forschung hat gezeigt, dass eine lokalisationsbezogene Betrachtungsweise des menschlichen, zentralen Nervensystems nicht zielführend ist (Sachsse, 2004). Lange Zeit wurde davon ausgegangen, einzelne Zentren seien autark agierend für bestimmte Leistungen zuständig. So spricht man heute noch von dem Sprachzentrum, obwohl bereits eindeutig bewiesen ist, dass Sprache und deren Produktion ein Produkt aus der Zusammenarbeit mehrerer, gut vernetzter Hirnstrukturen ist.
Das macht die Betrachtung neuropsychologischer Prozesse unter Stressbelastung natürlich deutlich komplexer und erfordert ein tiefgründiges Wissen über neurologische Strukturen.
Zum besseren Verständnis werden in der folgenden Beschreibung zunächst die wichtigsten, neurologischen Strukturen vorgestellt. Sinnvoll ist es jedoch im Hinterkopf zu behalten, dass deutlich mehr Regionen unseres Gehirns an diesem Prozess beteiligt sind und allein deren Zusammenarbeit letztendlich das Endprodukt, unser Verhalten und Erleben sowie Bewusstsein, bestimmen.
Die neuronalen Stammspieler der Stressverarbeitung



Präfrontaler Kortex
Hippocampus
Amygdala
Der Präfrontale Kortex (PFK) ist vorrangig bei planerischen Prozessen sowie bei der Lösung komplexer Probleme. Ebenso ermöglicht dieser Teil des Neocortex ebenso das Priorisieren von Aufgaben unter Berücksichtigung der zur Verfügungstehenden Ressourcen.
Der Hippocampus liefert zu den an ihn übermittelten Infor-mationen die passende Einord-nung hinsichtlich Raum und Zeit und spielt eine elementare Rolle bei Gedächtnisprozessen. Der Hippocampus ist hier jedoch nicht als Ort des Gedächtnisses zu verstehen, sondern eher als Koordinator des gesamten Gedächtnissystems. Er ist eng mit den kortikalen Strukturen verbunden und hilft daher, das Erlebte einzuordnen und bei Gefahrensituationen lösungs-orientiert zu handeln.
Die Mandelkerne sind für die Einordnung der ihr übermittelten Informationen hinsichtlich ihrer emotionalen Bedeutsamkeit zu-ständig. Ebenso agieren die Mandelkerne als eine Art "Gefahrendetektor", der durch seine Aktivierung schnell einen Gefahrenzustand an den Rest des Nervensystems vermitteln kann.

Thalamus und Hypothalamus
Die meisten sensiblen und sensorischen Reize werden im Thalamus verarbeitet und koordiniert. Dabei werden eintref-fende Informationen selektiert und priorisiert. Nur die wenigstens Reize, die auf den Thalamus treffen, werden weitergeleitet. Das bedeutet, wir nehmen nur dass bewusst wahr, was sich oberhalb unserer Wahrnehmungsschwelle befindet und damit zur weiteren Ver-arbeitung an angrenzende Hirn-strukturen gesendet wird. Der Thalamus fungiert also als eine Art Filter, der wichtige von unwichtigen Informationen trennt.

Hypophyse
Die Hypophyse ist die Koordinatorin der meisten außerhalb des Gehirn liegenden endokrinen Drüsen und steuert damit deren Hormonausschüt-tung. Des weiteren produziert die Hypophyse selbst Hormone, die Einfluss auf den gesamten, menschlichen Organismus haben. Sie steht in enger funktioneller Verbindung mit dem Thalamus.
Funktionskreis
physiologischer
Stressverar-beitung
Da die menschliche Reaktion auf eine stressreiche Belastung als eine Art sequenzielle Kaskade beschrieben werden kann, ist es sinnvoll, sich zunächst die Wirkweise neuronaler Systeme in Bezug auf akuten Stress anzusehen. In akut-milden Stresssituationen dient Stress für die meisten Menschen eher als eine Art motivationaler Katalysator dient. Stress motiviert uns zu Handlung und löst Lethargie (Sachsse, 2004), Er aktiviert Denkprozesse und befähigt uns zu lösungsorientierten Handlungsweisen.
Da unser neurologisches Systems jedoch auf ein funktionales Gleichgewicht angewiesen ist, kann es bei einem Überhandnehmen der Stressintensität nicht alle Funktionskreise gleichsam aufrecht erhalten. Dies hat Folgen bezüglich unseres Verhaltens und Erlebens während dieser Situation und auch für deren Verarbeitung. Es ist also sinnvoll, zu verstehen, wann dieses notwendige Gleichgewicht kippen kann und welche Auswirkungen dies auf die Arbeit mit Menschen haben kann.
Stress-Schnellstraße


Die praktisch erste Stufe der Stressverarbeitung beginnt in der Zusammenarbeit von Thalamus und Mandelkernen.
Übersteigt ein Reiz die Wahrnehmungsschwelle, in dem er durch den Thalamus als wichtig eingestuft wird, entsteht beinahe automatisch eine emotionale Bewertung dieses Reizes in den Mandelkernen. Durch deren Aktivierung spüren wir grundlegend erst einmal Angst, Furcht oder auch Ekel. Der Körper wird dadurch in Alarmbereitschaft gesetzt.
Bei primär extrem bedrohlichen Reizen, kann über die Amygdala direkt das sympathische Nervensystem aktiviert werden ohne das die Großhirnrinde in den Prozess einbezogen ist. Dies ist dann sinnvoll, wenn nicht viel Zeit zum Handeln bleibt, um eine drohende Gefahr abzuwenden.
Durch die Aktivierung des Sympathikus und damit einer erhöhten Noradrenalin- und Adrenalinausschüttung werden wir körperlich in die Lage versetzt, schnell, effizient und damit überlebenssichernd zu reagieren.
Vom Thalamus zum Kortex


Eine weiterhin mögliche Aktivierung des Stresssystems geschieht, wenn der Thalamus die Informationen erst einmal in Richtung der Großhirnrinde sendet. Wird ein Reiz dort, durch kognitive Prozesse wie Abwägen, Evaluieren und Erfahrungslernen als bedrohlich eingestuft, sendet dieser die Informationen zurück an Amygdala und Hippocampus.
Durch die enge Verknüpfung der Amygdalea mit dem Hippocampus können wir den als bedrohlich eingestuften Reiz dann erst einmal kontextuell einordnen. Der Hippocampus ermöglicht damit in Verbindung mit dem Kortex eine situative sowie auf Lernprozessen orientierte Bewertung der Gefahr. Auch hier hat die Aktivierung der Mandelkerne eine Erhöhung des Noradrenalinspiegels und damit auch eine vermehrte Ausschüttung des Hormons Adrenalins zur Folge.
Zeitgleich kommt es meist zu einer erhöhten Aktivität des Kleinhirn und der Basalganglien, was sich schnell in motorischen Symptomen wie Bewegungsunruhe und Zittern bemerkbar machen kann.
Als Beispiel hierfür eignet sich die Vorstellung alleine durch einen Park zu laufen. Während dies im Laufe des Tages bei den meisten keine Angst erzeugen würde, so würde es durch eine Änderung der situativen Umstände - zum Beispiel ein nächtlicher Spaziergang- schon eher zu aversiven Angstreaktionen kommen. Der Hippocampus gleicht also permanent die empfundene Bedrohung mit der tatsächlichen räumlichen, personellen und zeitlichen Situation ab.
Wirkung Adrenalin:
Verengung der Blutgefäße, Erhöhung der Herzfrequenz
Hemmung immunologischer und gastroenterologischer Prozesse
Reduzieren der Schmerzwahrnehmung
Noradreanlin:
Steigerung der psychischen Aufmerksamkeit
Stufe zwei:
HPA-Achse




Insofern die Stressbelastung unter der erhöhten Noradrenalin- und Adrenalinausschüttung nicht beendet werden konnte, springt ein zweites neuronales System an - die sogenannte Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse, kurz HPA-Achse genannt.
Dieser Mechanismus bringt einen weiteren Botenstoff-Player ins Spiel; das Cortisol.
Cortisol, welches in den Nebennieren gebildet wird, wirkt auf unseren gesamten Körper - so auch im Gehirn. Neben seiner immunsupressiven Wirkung hat es vor Allem zum Ziel, die durch das Adrenalin ausgelöste Übererregung zu reduzieren und damit beruhigend auf das limbische System einzuwirken.
Neben Cortisol findet durch die Basalganglien auch eine erhöhte Bereitsstellung von Dopamin statt. Dopamin wirkt wie bereits beschrieben Bewegungsfördernd und - in der richtigen Konzentration- auch aktivierend auf den Präfrontalen Kortex. Wir sind dadurch also auch in der Lage denkend und planerisch zu handeln, um der Stresssituation zu entkommen.
Wenn wir uns erinnern, dass traumatische Erlebnisse durch das Auftreten existenzieller Bedrohung bei zeitgleich empfundener Hilflosigkeit gekennzeichnet sind, macht es Sinn sich auch hier zu fragen, welche neuropsychologischen Prozesse damit verknüpft sind. Das heißt genau: Was passiert, wenn das durch die Stressachse aktivierte Kämpfen oder Flüchten nicht zielführend sind und die Belastung weiter besteht.
Traumatische
Stressverarbei-tung




Wie bereits beschrieben, lösen diverse Neurotransmitter und Hormone stressspezifische Aktivitäten des zentralen Nervensystems aus. So schnell diese Aktivierung geschieht, so schnell kann sie auch das System zum kippen bringen.
Unser komplettes Nervensystem ist auf ein Gleichgewicht hormoneller Vorgänge und Konzentrationen angewiesen. Das bedeutet nicht zwingend, dass überall die gleichen Konzentrationen bestimmter Hormone und Transmitter vorliegen müssen sondern eher, dass diese stets in einen physiologischen Verhältnis zueinander vorhanden sein müssen.
Liegt zum Beispiel eine deutlich erhöhte Konzentration von Dopamin in den Basalganglien vor, reduziert der Präfrontale Kortex seine Aktivität. Heißt ganz praktisch: Uns fällt es schwerer unsere Impulse zu kontrollieren, sich Sachen zu merken oder aufmerksam zu sein. Insbesondere auch das Lernen unter hoher Stressbelastung ist dadurch nicht möglich!
Da auch insbesondere der Hippocampus besonders viele Cortisol-Rezeptoren vorweist, kommt es ebenso bei einem Überfluten mit dem Stresshormon zu einem Konzentrationsanstieg, der eine Reduktion hippocampaler Aktivitäten zur Folge hat, was insbesondere Einfluss auf unsere Gedächtnisleistung hat.
Kommt es zu einer extremem Steigerung der Stresshormone, wie es in traumatischen Situationen unweigerlich der Fall ist, kommt es zu einem gänzlichen funktionellen Abschalten des Hippocampus und der präfontalen Zentren.
Hier befinden wir uns in dem beginnenden Prozess der emotionalen und sensorischen Abschaltung. Das was Menschen in diesem Moment erleben, gelangt zwar über die weiterhin alarmschlagenden Mandelkerne und den Thalamus in das zentrale Nervensystem, es findet nur nicht seinen Weg in kortikale und hippocampale Strukturen. Da der Hippocampus nicht mehr in der Lage ist, einen Bezug zwischen dem tatsächlich stattfindenden und inneren sowie äußeren Orientierungspunkten herzustellen (Raum, Zeit, Person, …) prasselt alles praktisch ungefiltert und unkommentiert auf das limbische System. Hier kommt es im Erleben der betroffenen Person also vermehrt zu Derealisations- und Depersonalisationsgeschehen und stark dissoziativen Prozessen.
Wie stark diese Mechanismen greifen, ist abhängig von vielen Faktoren wie der Dauer und Intensität der Bedrohung sowie auch davon, ob und welche Personen die Bedrohungssituation erzeugen (Neuner, Catani, Schauer, 2021).
Dadurch dass das Erlebte zwar gespeichert, aber nicht bewusst durch den Kortex zugänglich abrufbar ist, kommt es häufig Amnesien oder Teilamnesien bezüglich der traumatischen Situation. Da der Hippocampus nicht in der Lage war, das was geschah hinsichtlich der Zeit und dem Raum zu kodieren, erleben Betroffene häufig "Flashbacks", in denen das Gehirn suggeriert, das was passiert ist, geschieht gerade in diesem Moment noch einmal. Es fehlen vereinfach betrachtet die durch den Hippocampus gedruckten Etiketten, mit denen Erinnerungen bestückt werden und anschließend bewusst abrufbar archiviert werden.
Die Trauma-Erinnerung hat sich praktisch unbewusst eingebrannt.
Folgen
Input für
die Praxis
Mit Hilfe dieser neurobiologischen Erkenntnisse, lassen sich beinahe für jeden helfenden Berufsfeld grundlegende Fragen formulieren. So ist es beispielsweise eine Überlegung wert, wie sinnvoll bestimmte pädagogische Interventionen bei Kindern und Jugendlichen sind, die sich in einem psychisch übererregten Zustand befinden. Ist es überhaupt möglich, dass sich die betreffende Person in einem Zustand hoher Stressbelastung, wie einem Wutanfall, reflektieren kann und möglichweise noch die Frage beantworten soll: "Warum bist du denn jetzt so wütend?".
Wie sinnvoll ist es im physiotherapeutischen Kontext, trotz einer ausgeprägten Angstreaktion seitens der Klientin das Gangtraining mit dem Ziel "Sie muss lernen, dass das Bein wieder belastbar ist" weiterzuführen? Ist das angestrebte Lernen dann überhaupt noch möglich?
Es ist zu sagen, dass es für einen nachhaltigen Lernprozess eine permanente Kooperation des limbischen Systems und des Präfrontalen Kortex braucht. Weder das Erstarren in Angsterleben durch ein ausschließliche limbische Aktivierung noch das bloße Aktvieren kortikaler, bewusster Strukturen können hier das Ziel "Lernen" erreichbar machen. Es muss ein schneller, effizienter Wechsel zwischen diesen Prozessen möglich sein. Wie das gelingen kann, wird im Punkt "Praxis" genauer erläutert.
Literatur
Neuner, F., Catani, C. & Schauer, M. (2021b). Narrative Expositionstherapie (NET). Hogrefe Verlag GmbH & Company KG.
Sachsse, P. U. (2018). Traumazentrierte Psychotherapie: Theorie, Klinik und Praxis - Mit einem Vorwort von Luise Reddemann. Klett-Cotta.