
Medizinisches Trauma gleich Psychotrauma?
Der Begriff "Trauma" bezeichnet im medizinischen Kontext "Verletzungen eines Gewebes durch den Einfluss externer Faktoren" (Pschyrembel Online).
Auch wenn sich die Psychologie und Medizin hier eines Wortes bedienen, so wird in der Praxis häufig das Zusammenwirken von medizinischem und psychischen Traumata nicht berücksichtigt.
Charakteristisch für ein traumatisches Erlebnis ist das Bestehen einer existenziellen Gefahr bei gleichzeitiger Hilfslosigkeit und fehlender Eigen- und Fremdkontrolle.
Betrachtet man dann das Erleben von Menschen in medizinischen Notfallsituationen, können hier sicher einige Parallelen gezogen werden. Solche Situationen gehen für die in Not geratenen Menschen häufig einher mit dem Verlust basaler Körperfunktionen und damit einem Verlust von Selbstständigkeit und der Fähigkeit sich selbst zu helfen und aus der kritischen Situationen zu befreien. Häufig kommt es zum Erleben von Handlungsohnmacht während die Handlungsmacht alleinig dem medizinischen Personal übertragen wird. Das sichert in den meisten Fällen das Überleben der Betroffenen, kann jedoch auch tiefe, seelische Wunden hinterlassen.
Trauma ist gleich Trauma?
Betrachtet man die Traumadefinition in den gängigen Klassifikationssystemen, so ist es möglich "eine schwere körperliche Erkrankung als traumatisches Ereignis anzusehen" (Maercker et al 2019).
Im Vergleich zum klassischen Psychotrauma gibt es hier jedoch einige Besonderheiten, die im Modell "enduring somatic threat" (Edmondson, 2014) zusammengefasst werden.
Medizinisch induzierte Traumata haben häufig keinen in der Vergangenheit liegenden Endpunkt.
Die Traumatisierung hält aufgrund der bestehenden Erkrankung (z.B. Krebserkrankung) weiterhin an.
Die Gegenwart und auch die Zukunft stellen damit also keinen "sicheren Hafen" dar, sondern ist geprägt von der Erkrankungen und deren Folgen.
Vermeidungsverhalten und Hyperarousal sind auch bei medizinisch induzierten Traumata häufige Symptome
Sie können sich potentiell nachteilig auf den Genesungsprozess auswirken. Beispielsweise werden Folgetermine bei Ärzt:innen vermieden oder Medikamente als Konsequenz des Vermeidungsverhaltens zu früh abgesetzt.
Edmondson legt nahe, dass das Auftreten einer PTBS nach einer akuten und schweren Erkrankungen daher die Mortalitätsrate erhöhen kanndiesen Absatz, um eine bestimmtes Angebot hervorzuheben.
Traumaauslöser sind primär intrinsische Prozesse und keine externen Geschehnisse.
Anmerkung: Der Umgang mit Menschen in medizinischen Notsituationen ist sicher ein Faktor für das Auftreten einer Traumafolgestörung, so dass nicht ausschließlich von inneren Prozessen gesprochen werden kann. Eine schwerwiegende Erkrankung löst eine Kette von potentiell traumatisierenden Erfahrungen aus, die nicht ausschließlich auf innere Prozesse zurückzuführen sind.
Häufigkeit von einer PTBS-Symptomatik nach medizinischem Trauma
Tatsächlich ist es schwer, hierzu genaue Angaben zu finden. Das liegt zum einen daran, dass das Auftreten einer PTBS abhängig von der zugrundeliegenden Erkrankung sowie dem Erfassungszeitpunkt nach Krankheitsbeginn ist. Außerdem ist eine Unterscheidung zwischen akuter Belastungsreaktion und PTBS aufgrund des potentiell anhaltenden traumatischen Ereignis nur schwer vorzunehmen (Maercker et al., 2019, S. 446-447).
Zur groben Orientierung dienen vielleicht diese Werte:
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Anteil der Menschen in % mit PTBS nach Aufenthalt auf Intensivstation (Wemme, Foerster & Niecke, 2020):
1. -6. Monat nach ITS-Aufenthalt: 44%
7.-12. Monat nach ITS Aufenthalt: 34% -
Nach Herzinfarkt: 12% ; nach Herztransplantation: 15% (Edmondson et al, 2012)
Risikofaktoren
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Traumatisierung oder psychische Erkrankungen in der Vorgeschichte
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Schmerzen und Todesangst
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Fehlende soziale Unterstützung
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Geringer soziökonomischer Stand
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Bei ITS-Aufenthalten zusätzlich (Davydow et al., 2008, zit. nach Köllner, 2019 in Maercker, 2019) :
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Sedierung vor Allem mit Benzodiazepinen
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Vorliegen eines Delirs/ hirnorganischem Psychosyndroms
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Input für
die Praxis
Auch wenn es nicht immer möglich ist, eine risikoarme, medizinische Behandlungssituation zu gestalten, so lassen sich aus diesen Faktoren auch einige, wichtige Impulse zur Prävention von psychotraumatologischen Folgen ableiten.
Da insbesondere das Vorliegen von psychischen Erkrankungen bzw. bereits erlebte Traumata einen bedeutenden Risikofaktor für das Entstehen einer medizinisch-induzierten Traumatisierung sein können, kann einer soliden Anamnese besondere Wichtigkeit beigemessen werden.
Bei vergleichsweise wenig Aufwand für das medizinische Personal kann hierdurch zumindest Aufmerksamkeit für die Prädisposition erneuter Traumafolgestörungen geschaffen werden. Als Konsequenz daraus bietet sich eine engmaschigere psychologische bzw. sozialarbeiterische Begleitung von besonders vulnerablen Personen an. Ebenso sollte auch in Bezug auf mögliche Medikationen mit Sedativa besonders sorgsam abgewogen werden.
Traumaprävention in der intensivmedizinischen Praxis:
Die Uniklinik Freiburg
Als Praxisbeispiel für die Umsetzung von präventiven Maßnahmen in Bezug auf Posttraumatische Belastungsstörungen bei Intensivpatient:innen bietet sich ein Blick auf die intensivmedizinische Station der Uniklinik Freiburg unter Leitung von Dr. Hartmut Bürkle und Oberarzt Dr. Johannes Kalbhenn an.
"Auch ein sedierter Patient wacht fast vollständig auf, wenn er Durst leidet, Schmerzen hat oder Angst empfindet. Nur kann er diese Bedürfnisse nicht äußern" (Dr. Johannes Kalbhenn in "Wache Intensivstation- bei vollem Bewusstsein", 2/2016)
Seit 2013 verzichtet die Intensivstation weitestgehend auf die Medikation mit Sedativa; mit dem Ziel auch für Intensivpatient:innen das größtmögliche Maß an Kontrolle und Selbstfürsorge zu erhalten.
In einem lesenswerten Interview in dem klinikeigenen Magazin "Das Magazin" erklären die beiden Ärzte die Beweggründe für diesen neuen Schritt in der Intensivmedizin.
Für das Team steht fest, dass der Vorteil dieser Art der Versorgung grundsätzlich in der erhaltenen Kommunikationsfähigkeit der Patient:innen liegt, die so in der Lage sind, Bedürfnisse nach außen zu vermitteln und so aktive Mitgestalter:innen der eigenen Behandlung und Pflege werden. Ebenso wird hervorgehoben, dass delirante Zustände von Patient:innen so deutlich besser erkannt und behandelt werden können und so ein weiterer Risikofaktor für Traumatisierungen reduziert wird.
Literatur
Edmondson, D., Richardson, S., Falzon, L., Davidson, K. W., Mills, M. A., & Neria, Y. (2012). Posttraumatic stress disorder prevalence and
risk of recurrence in acute coronary syndrome patients: a meta-analytic review. PloS one, 7(6), e38915.
https://doi.org/10.1371/journal.pone.0038915
Faber,J., Kiele, F., Lippitz,H., Schneider,I. & Wulf-Frick,H. (2016). Wache Intensivstation - Bei vollem Bewusstsein. Das magazin, 2/2016, 4-5.
Abgerufen von https://www.uniklinik-freiburg.de/static/ebook/Magazin-2016-2/files/assets/common/downloads/publication.pdf
[27.02.2022]
Maercker,A. (2019). Traumafolgestörungen (5.Auflage). Berlin: Springer
Pschyrembel Online. https://www.pschyrembel.de/Trauma%20[somatisch]/K0MUU, abgerufen am 27.02.2023
Wemme S., Foerster, L., Niecke A. (2020): Psychotraumatologie im Kontext der Intensivmedizin. In S.Kluge, M. Heringslake, U. Janssens, &
B.Böttiger (Hrsg.) DIVI Jahrbuch 2019/2020. Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, S. 4.