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Pollack

Der Charakter einer
traumatischen Erfahrung

​Um zu verstehen, welche Auswirkungen Traumafolgestörungen auf Betroffene haben, ist es sinnvoll, sich den Begriff der "Traumatisierung" bzw. des "traumatischen Erlebnisses" einmal genauer anzusehen.

Normale Stress-verarbeitung

Unangenehme, bedrohliche oder schmerzhafte Situationen rufen in uns Reaktionsmuster hervor, die nur eines zum Ziel haben: Die Situation soll vorrübergehen. Wir schützen somit unseren Körper und unsere Psyche davor versehrt zu werden, Schaden zu nehmen oder aus dem Gleichgewicht zu raten.

Insbesondere dann, wenn diese Situationen einen hohen akuten Stressfaktor mit sich bringen, können wir uns auf schnelle und effiziente Reaktionsmuster verlassen: Kämpfen oder Flüchten.
Das ist wichtig, denn häufig bleibt nicht genügend Zeit dafür, die Situation zu reflektieren, zu bewerten oder alternative Lösungswege zu suchen.
Müssten wir die Hand auf der heißen Herdplatte lassen, und erst überlegen, was eine angemessene Reaktion auf den Schmerzreiz wäre, hätte das auf lange Sicht betrachtet wahrscheinlich dazu geführt, dass es uns Menschen heute nicht mehr gäbe.

 

Das ist auch der Grund, weshalb die Abwehr von Schmerzen evolutionsbiologisch betrachtet, so effizient und schnell abläuft. Es gibt dafür fest angelegte, neurologische Bahnen, die es uns ermöglichen, auf Schmerzreize zu reagieren und im Nachgang aus diesen Situationen zu lernen.

Die Reaktion auf akuten, psychischen Stress ("Distress") setzt zwar ebenso ähnliche, automatisierte Reaktionen in Gang; sie sind jedoch noch einmal differenzierter zu betrachten.

 

Egal ob psychischer Stress oder Schmerzen: Wir können uns also darauf verlassen, dass lebenserhaltende und gefahrenabwehrende Automatismen unser Wohlbefinden sichern.
Sicher, auch eine kleine Verbrennung an der Hand ist schmerzhaft, als traumatisches Erlebnis würde sie jedoch wahrscheinlich nicht beschrieben werden.

No fight.
No flight.

Bei einem Ereignis mit traumatisierendem Wert finden wir uns in der gleichen Ausgangslage wieder.
Schmerz, Angst und damit ausgelöster Stress fördern unsere Abwehrreaktionen zu Tage. Doch die Situation hört nicht auf.

 

Der Stress bleibt und weder das Kämpfen oder Flüchten steht dem:der Betroffenen zur Verfügung. Es setzt das Erleben totaler Handlungsohmacht und Hilflosigkeit ein.

 

Traumatisierende Erlebnisse sind also dadurch gekennzeichnet, dass für den:die Betroffene die Gefahren abwehrenden Reaktionsmuster nicht durchführbar oder zielführend sind.

Input für
die Praxis

Insbesondere das Erleben von Handlungsohnmacht und Kontrollverlust

Kennzeichnen eine potentiell traumatisierende Situation.
Denken wir an die Menschen, die uns als Klient:in oder Patient:in in unserer täglichen Arbeit begegnen, so sollten wir uns einmal die Frage stellen, wie viel Kontroll- und Handlungsoptionen diese haben.
Das Erleben von körperlicher oder psychischer Einschränkung und die damit eventuell verbundene Abhängigkeit von anderen Personen, stellen einen Vulnerabilitätsfaktor hinsichtlich Traumatisierungen dar.

In seinem Buch "Erste Hilfe für traumatisierte Kinder" beschreibt Andreas Krüger (2020) folgende Einflussfaktoren, die eine Situation zu einem traumatisierenden Erlebnis machen können:

  1. Unausweichliche Lebensbedrohung für sich selbst oder eine nahestehende Person

  2. Unvorhergesehene, plötzlich eintretende Bedrohung

  3. Zwischenmenschliche Gewalterfahrung

  4. Lang anhaltendes Geschehen

  5. Keine Hilfe von außen

  6. Versagen des Schutzes durch Erwachsene, Eltern (Speziell im Bereich der Kinder- und Jugendpsychologie)

  7. Bedrohung durch einen nahestehenden Menschen
    Krüger, A. (2020). Erste Hilfe für traumatisierte Kinder. 9. Auflage. Patmos Verlag, S.21

Das Vorliegen ein oder mehrerer dieser Faktoren nimmt ebenso Einfluss auf den Verlauf, die Ausprägung und den Schweregrad der potentiell daraus resultierenden Traumafolgestörung. Mehr dazu hier.

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